Ein neuer Wald muss her

Es ist 8:00 Uhr am Sonntag morgen, ich habe Kopfschmerzen. Eine anstrengende Woche kombiniert mit dem Wein zum frisch gekochten und zelebrierten samstäglichen Abendessen, dem Bier vor dem Abendessen und den durch den gelungenen Auftakt mit Bier und Wein motivierten Gin-Tonics im Anschluss. Meine bessere Hälfte wuselt schon herum, sie muss heute den ganzen Tag ihre Firma auf einer Messe vertreten.

9:30 Uhr. Ich bin allein und liege immernoch völlig unmotiviert herum, erwarte jedoch bereits die Wirkung der Kopfschmerztabletten, die ich zwischenzeitig zu mir genommen habe. Die Gedanken kreisen bereits, was ich mit diesem Tag anfangen werde. Holz hacken, im Homeoffice Dinge nachholen, die in der Woche liegen geblieben sind, selbst liegen bleiben und eine TV-Gehirnwäsche mitmachen oder in den Wald gehen.

Ich liebe Wald und nachdem die Pillen wirken, entscheide ich mich für den Wald. Wir wohnen in einer sehr landwirtschaftlich geprägten Gegend, die im Laufe der letzten Jahrhunderte die Wälder stark zurückgedrängt hat. Unser "Hauswald" ist daher so was wie eine Insel umgeben von Acker, keine große Insel, im Schnitt mit zwischen 6 und 10km Durchmesser. Ich liebe diesen Wald, kenne aber dort alles bereits auswendig.

Es ist Zeit: Ein neuer Wald muss her! Der Arm reicht zum Tablet, Google Maps starten und die Umgebung sondieren, ich will viel Fahrerei heute unbedingt vermeiden. Ein großer, grüner Fleck auf der Karte preist sich an, circa 30km entfernt. Da ich an unserem heutigen Wohnort nicht aufgewachsen sondern vor ein paar Jahren zugezogen bin, gibt es immer noch tolle Dinge in der Umgebung zu entdecken, wenn man denn entdecken will und wenn "toll" kein Freizeitpark ist. Der grüne Fleck nennt sich Flechtinger Höhenzug. Es gibt bei Google eine Bewertung eines enttäuschten Besuchers dazu, dort wäre absolut nichts los und man solle besser woanders hinfahren. Das hört sich gut an, nichts los, keine anderen Menschen, so wenig Zivilisation wie möglich, die Wildnis beginnt hinter dem Haus wenn man nur will.

Abenteuerhose anziehen (so ein Outdoorteil, was ich mir mal zum Angeln gekauft habe), leichte Wanderschuhe, Rucksack mit Wasser und einer Kleinigkeit zu Essen, ein feierliches Bier für einen erhabenen Moment (die Pillen haben gewirkt), Regenjacke zur Sicherheit, Taschenmesser und Geräte, mit denen man Fotos machen kann, ich will ja mal diesen Artikel hier schreiben und ein paar Bilder dazupacken. Bei allen zur Fotografie geeigneten Geräten ist der Akku fast leer, nur nicht bei der neuen Spiegelreflex, die liegt aber im Büro und das liegt gar nicht auf dem Weg. Ich merke, ich bin auf diesen Moment schrecklich schlecht vorbereitet, lasse mir aber nicht aufkeimende Motivation verderben. Also schleppe ich alles mit was irgendwie fotografiert, kann knipsen und wenn der Akku alle ist, das nächste Teil nehmen. Das Handy lade ich im Auto.

Nach rund 40 Minuten Fahrt über Landstraßen beginnt der Flechtinger Höhenzug. Ich bin während der Anfahrt den Einwendungen des Navis zum Trotz mal anders abgebogen und nun auf einer rumpeligen, kleinen Straße gelandet, die mitten in diesen Wald führt. Kein anderes Auto weit und breit, nichts los, sehr gut. Ich rumpele mich so langsam immer tiefer voran, halte an, schließe die Augen, ziehe mir die Luft tief rein, dieser Geruch, das will ich haben. Ich tauche noch weiter ein, sehe auf der Grafik des Navis eingezeichnete Gewässer rechts von der Straße im Wald, da muss ich hin. Ich stelle das Auto neben einer stillgelegten Bahnlinie ab, die den Wald still zerschneidet.

Der Rucksack ist irgendwie voll, das nervt am Anfang etwas, ich habe aber eigentlich wenig unnützen Ballast dabei. Ich bleibe zunächst auf dem Weg, finde mehrere Teiche, Tümpel und Wasserlöcher. Froschgebrüll und -gehüpfe, die Sonne scheint, kein Mensch weit und breit, das war eine gute Entscheidung, die Expedition "neuer Wald" der TV-Hirnwäsche vorzuziehen. Nach einer Kurve plötzlich eine riesige Wiese, von Mischwald eingefasst. Die Wiese ist von einem Landwirt abgemäht und das Heu in den letzten Tagen scheinbar erst eingebracht worden. Ich wollte doch keine Zivilisation, aber immerhin sind keine doofen Leute unterwegs. Auf der Wiese steht eine große Rinderherde, die sich mangels sonstigem Rahmenprogramm massiv für mich zu interessieren scheint. Eingefasst von einem dünnen Drähtchen des Elektrozauns glotzt man mich nun geballt an. Kein Rind frisst mehr, alle glotzen. Wie eine militärische Einheit mit Fell und Hörnern, die auf den Angriffsbefehl wartet, um den Spacken mit dem etwas zu voll gestopften Rucksack bei Einsatzbefehl sofort plattzutrampeln.

Ich entscheide mich, die Rindviecher zum umwandern und starte ab jetzt direkt ins Unterholz, ohne Weg und so. Schön hier, ich passiere Hügel, klettere über große umgestürzte Buchen, über die sich kein Brennholzwerber hergemacht hat. Ein untrügliches Zeichen, dass das Gelände unwegsam und schlecht zu erreichen ist. Ich überlege, wie man das Holz hier trotzdem wegbekommen und auf meinen Hof zerren könnte, um es dem Brennholzbestand zuführen zu können. Ich erinnere mich an das abgegebene häusliche Versprechen, in diesem Jahr mit dem Brennholz endlich fertig zu sein, da ich in dieser Saison deutlich mehr als in den letzten Jahren beim Förster unseres Hauswaldes gebucht, rangeschleppt und verarbeitet hatte. Meine Mutter sagt, das kann zur Macke werden. Ist es vielleicht auch schon, weshalb ich mich überhaupt in solche Gedankenkreisel begebe. Aber deswegen bin ich nicht hier, die umgestürzte Tanne ein Stückchen weiter hätte aber bestimmt gut, nein, Schluss, weitergehen.

Irgendwann wieder ein Waldweg, ein kleine Straße und ein lückenloser Zaun, mit Stacheldraht. Truppenübungsplatz? Gibt's hier eigentlich nicht. Ein Stück weiter klärt ein Schild auf, dass das Betreten des Steinbruchs verboten sei. Gut, umschiffen wir die Klippe, ich bin gerade erst rund 2 Stunden unterwegs, umkehren würde noch keinen Sinn machen. Ich laufe die Straße am Zaun entlang, bis dieser endet und verschwinde wieder im Unterholz. Der Wald sieht hier total anders auch, als die bislang durchstreiften Gebiete. Ein dichtes Blätterdach dämpft das Licht zu einer unwirklichen Lichtstimmung, aber sehr wenig Unterholz lässt den Blick darunter weit schweifen, wie in einer riesigen, überdachten Halle. Links von mir der Zaun, wieder andere Gerüche, wie kommt das Wild hier eigentlich mit dem Zaun klar? Je weiter ich vordringe, desto häufiger wird der Zaun löchrig und Wildpfade führen hindurch. Ich laufe weiter und frage mich, wie groß dieser Steinbrauch eigentlich ist. Auch im kleinen Hauswald haben wir uns in der Erkundungsphase öfter mal verlaufen und das dann mit 5 oder mehr Strafkilometern bezahlt, kann das auch hier passieren? Sicher. Wenn man sich zudem hier den Fuß verkrickelt oder ein Bein bricht, wird es auch ziemlich schwierig, jemanden zu Hilfe hier ins Unterholz zu lotsen. Mitten in einem kleinen grünen Fleck, mitten in der Zivilisation beschleicht mich so was wie Respekt vor der Wildnis, der kleinen Wildnis, die hinter dem Haus beginnt. Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche, habe keinen brauchbaren Empfang, dafür aber noch die Karte der Region geladen auf dem Display. Ich finde den Steinbruch und bekomme eine Ahnung, wie groß das Ding ist. Größer als gedacht, aber bezwingbar, motiviere ich mich als eher ungeübter Wanderer.

Irgendwann stehe ich vor einem anderen gefängnisartigen Zaun, 3m oder höher, sehr stabil und lückenlos ausgeführt. Auf meiner Seite ist der Wald voller Gestrüpp und umgekippter Bäume, kein bewirtschafteter, deutsch anmutender Forst. Auf der anderen Seite sieht es irgendwie aufgeräumt aus, aber trotzdem anziehend natürlich. Ein Weg ist zu sehen, ein paar Meter weiter ein tolles großes Blockhaus. Ich gehe weiter am Knastzaun und irgendwann kommt das Tor dazu mit Schild, Steinbruch, ok, alles gehört hier zum Steinbruch. So einen Steinbruch müsste man haben, dann würde einem auch so ein Blockhaus mitten im Wald gehören und man wäre nur einen bezwingbaren Arbeitsweg von der Arbeit in der Stadt entfernt. Man bräuchte dann gar nicht mehr nach Norwegen oder Schweden zu fahren, denke ich.

Ich wandere weiter und weiter, lasse die Zäune hinter mir, passiere eine Lichtung, bin wieder im Wald. Langsam fangen die Füße an zu qualmen, ich entferne mich aber immer noch vom Augangspunkt, langsam müsste ich die Richtung ändern. Ich merke, dass ich noch gar keine Pause gemacht habe, vor Aufregung oder so, obwohl ich gar nicht so richtig aufgeregt bin. Irgendwann wieder etwas Zivilisation im Wald, Zäune und Wohnwagen um einen Tümpel herum. Ich umschiffe das Terrain, nachdem ich mehrere Schilder passiere, auf denen die Campingplatzleitung deutlich macht, dass Fremde hier absolut unerwünscht sind, zu verschwinden haben und die Unversehrtheit der Umfriedung mit Kameras überwacht würde. Ich leiste Folge und verschwinde.

Ein Stück weiter ein alter Steinbruch mit glasklarem und blauen Wasser, traumhaft. Darin: Taucher. Jede Menge. bestimmt 10. Damit hätte ich auf dem Trip am wenigsten gerechnet. Der Steinbruchsee scheint ein lokales Tauchermekka zu sein. Ich nutze die Gelegenheit für eine Pause, erleichtere meinen Rucksack um Riegel, Banane und Mineralwasser und schaue den Tauchern erst bei der Vorbereitung, dann beim erzeugen von Blubberblasen zu. Irgendwie sieht s hier auch aus, wie ich es aus Norwegen kenne. Nur etwas kleiner.

Irgendwann breche ich auf und nehme mir vor, die stillgelegte Bahnschiene zu finden. Das gelingt auch. Die Richtung stimmt ebenso, ich befinde mich seit der Begegnung mit dem Taucherparadies bereits auf der anderen Seite des großen Steinbruchs. Ich umwandere einen abgelegenen Bahnhof mit restauriertem Gebäude, in dessen Garten eine lautstarke Familie irgendeiner Beschäftigung nachgeht. Ich möchte vermeiden, in eine Fragerunde zu geraten, was ich denn da auf dem Gleisen zu suchen hätte, schlage mich durchs Dickicht und umschiffe das Gebäude. Danach laufe ich auf der Schiene und stelle fest, wie doof es sich auf den Schwellen laufen lässt, weil der Abstand irgendwie gar nicht mit meinem Schrittmaß harmonieren will. Als Kind ging mir das auch schon so, nur bin ich zwischenzeitlich deutlich gewachsen. Egal, ich komme voran und beginne zu hoffen, dass die schmerzenden Füße jetzt nicht anfangen Probleme zu machen.

Als die Bahn hier noch in Betrieb war, muss das eine ganz tolle Strecke gewesen sein. Mit dem Ferkeltaxi im Schneckentempo durch die Landschaft und hinein in den Wald. Da müsste man doch was draus machen können, entflammt in mir der Tatendrang. Ich erinnere mich an die Googlebewertung und die Tatsache, dass man das Gebiet meiden soll, da hier nichts los ist. Ich beschließe, dass das für mich völlig in Ordnung ist und so bleiben sollte.

Auf dem letzten Kilometer vor meinem Auto biege ich von der Schiene dann noch in einen seltenst genutzten, zugewachsenen Weg ab, den ich mit meinem Smartphone dank besserem Empfang bestimmen konnte. Er führt mich durch eine Monokultur ca 40-50 jähriger Kiefern. Klingt langweilig, riecht aber unglaublich gut. Ich freue mich, vor mehr als einem Jahr erfolgreich mit dem Rauchen aufgehört zu haben und genieße den Geruch, so wie schon auf dem Rest der Tour die unterschiedlichen Gerüche.

Irgendwann bin ich am Auto, drehe mich nochmal im Kreis, freu mich und fahre nach Hause. Was für ein toller Tag, ich fühle mich aufgeladen, die Füße schmerzen zwar, aber der sonst täglich nie mehr als halbvolle Akku des Lebens ist voll, bis zum Rand. Ich liebe die Wildnis hinter dem Haus.

Wichtig!

  • teste diese Erfahrung allein, ohne Begleitung
  • geh unbedingt ausschließlich zu Fuß
  • sei völlig offen für neue Dinge
  • erwarte nicht zu viel an Attraktion, so kannst Du nicht enttäuscht werden
  • konzentriere Dich auf Deine innere Stimme
  • nutze alle Sinne, denn dazu verfügst du darüber
  • handele anders, als du es täglich tun würdest
  • pack deinen Rucksack nicht zu voll...

Impressionen